Chung Tai Shan ist eins der größten buddhistischen Klostergebäude der Welt. Es steht im Zentrum Taiwans, in der Nähe der Kleinstadt Puli. Mit Schnellzug und Bus dauert es drei Stunden bis dorthin. Shiffu hat mehrere Jahre im Kloster Chung Tai gelebt, bevor sie in die kleine Zweigstelle in den Bergen hinter Taipeh gezogen ist. Imposant, ja fast martialisch, überragt das Kloster mit seiner markanten goldenen Kuppel die gesamte Region. Ich bin ebenso beeindruckt wie eingeschüchtert. Miriam sagt, ihr sei das am Anfang auch so ergangen. Aber heute merke ich den Stolz, der sie erfüllt, während sie mich durch die Hallen führt. Einen besseren Guide kann ich nicht haben. Mit viel Bewunderung für den Master Wei Chueh, der den Zen-buddhistischen Orden gegründet und auch die Innen- und Außenarchitektur bestimmt hat, erklärt sie mir etwas über Geschichte und Klosterordnung. Der normale Tourist kommt in die Räume, die ich sehen darf, gar nicht hinein. Überhaupt wird hier viel abgeschirmt und eingezäunt. Warum habe ich hier ständig das Gefühl erwischt zu werden? Miriam und ich schleichen im fünften Stock über eine Empore. Total verboten. Aber so lässt sie mich von oben auf den großen Meditationssaal sehen, in dem die Mönche sich nach ihrer Mittagspause einfinden. Es läuft gerade ein Retreat. Das ist eine mehrtägige Veranstaltung, in der sich eine durch den Abt oder die Äbtissin bestimmte Gruppe von Mönchen oder Nonnen auf die Meditation und das Dharma, also die Lehren Buddhas, konzentriert. Es gibt einen fest geregelten Tagesablauf. Und einen Haufen Regeln. Vor allem muss es ständig still sein. Ich vergesse zu atmen. Und denke: „Das Ich spielt im Buddhismus keine Rolle. Besser gesagt: In der buddhistischen Lehre gibt keine Identität, kein Selbst. Die von uns Menschen erlebte Dualität der Welt, das heißt, die Annahme, es gäbe mich und die anderen, Gut und Böse, Mann und Frau, Mensch und Natur, Form und Inhalt, Subjekt und Objekt – sei eine Illusion. Die Welt, wie nicht erleuchtete Menschen – wie ich – sie erleben, sei nichts als ein fortwährender und leidvoller Traum. Eine Illusion, in der Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt aufeinanderfolgen. Nichts darin ist beständig, kein Augenblick bleibt. Alles ist in ständiger Veränderung. Auf Gesundheit folgt Krankheit, Bindungen werden geschlossen und getrennt, spätestens durch den Tod. Ziel aller Buddhisten ist es, diesem leidvollen Samsara zu entrinnen und ins Nirvana zu gelangen. Irgendwann. In irgend einem Leben. Das soll gelingen, indem die Ursachen des Samsara, wie Ich-Sucht, Gier und Anhaften überwunden werden. Ein Selfie, zum Beispiel, denke ich, ein Selfie vereint alle diese negativen Triebkräfte. Es stellt das Ich „gierig“ in den Mittelpunkt. Vergebliche Versuche, verrinnende Momente auf dem Foto festzuhalten. Anhaftung an Erinnerungen. Meditation und Beachtung des Dharma hingegen seien die wichtigsten Mittel, um sein Karma fortwährend, auch von Leben zu Leben, zu verbessern und irgendwann – nicht unbedingt in diesem Leben – erleuchtet zu werden. Und aus dem Samsara auszutreten. Buddha zu werden.“ Ich atme wieder. Spüre mein Ich. Miriam erzählt mir, dass es während eines Retreats auch schon mal einen Schlag mit dem Holzstock geben kann. Zum Beispiel, wenn man einschläft während der Meditation. Die Nonnen nennen diesen Stock ironisch: „Non-Selfie-Stick“. Ganz oben, im Turm des Gebäudes, steht eine mächtige Holzpagode. Es gibt kaum Wände, alles ist aus Glas, Blick über das Gebirge draußen. Die Pagode wird beidseitig von Licht bestrahlt und sieht so schön aus – darf aber nur von der Aufseherin betreten werden, nicht einmal Shiffu war jemals darin. Unter dem lichten Turm und unter den mächtigen marmornen Hallen mit all den goldenen Statuen liegen labyrinthartige schmale Gänge mit niedrigen Decken und ohne Tageslicht. Das sind die Unterkünfte für die Laien, die vielen freiwilligen Helfer des Klosters. Und für neugierige Besucher wie mich. Die Unterirdischen. Durch eine Gittertür gelangt man in einen Schlauch, von dem links und rechts mehrere Zimmer abgehen, die man wiederum auch durch Gittertüren betreten kann. Neonlicht. Ein Zimmer hat etwa sieben Quadratmeter, auf einer Holzempore liegen dicht gedrängt vier papierdünne Isomatten. Schlafplätze für vier Personen. Kein Fenster. Keine Lüftung. Miriam erzählt später von ihren ersten Nächten im Kloster. Ihr Raum hatte Gitter an den Fenstern. Das war hart, sagt sie. Aber genau so habe sie es gewollt. Keine Anhaftungen. Was für einen starken Willen sie hat. Ich bleibe nur eine Nacht. Als um vier Uhr zwanzig andauernde Schläge von Holzstock auf Holzbrett die Morgenmeditation ankündigen, beschließe ich: Jetzt reicht´s! Nächste Nacht schlafe ich im Hotel. Miriam lacht darüber. Meine Anhaftung an Bequemlichkeit. Ich Weichei. Mein Nirwana muss noch lange warten. Dafür mache ich ein Selfie von mir und dem Kloster. Immerhin ohne Selfie-Stick.