Wer bis 1 P.M. noch kein „shelter“ habe, solle sich beeilen, rät der Lokalsender. Ich beschließe, mein „shelter“ soll die Ferienwohnung sein. Vermieterin Kathy wohnt nur zwei Schritte entfernt, ich bin in einer Art Einliegerwohnung. Kathy wird die Nacht auch im Haus verbringen, ihr Mann Greg arbeitet im Krankenhaus und übernachtet dort. „I went through ten hurricanes“, sagt er. Dieses Haus habe allen Stürmen Stand gehalten. Das ist für mich Empfehlung genug.

Ab 14 Uhr setze ich mich vor den Fernseher und sehe mir sehr kleine Moderatoren vor sehr großen Darstellungen des Hurrikans an. Die Lokalsender machen sich hier nicht viel aus Fakten. Die bunten Bilder von Irma haben nur sehr selten eine Legende. Es gibt ein Auge in der Mitte, da kreiselt der Wind so rum und Rot bedeutet „dangerous“. Mehr sollte man sich nicht merken. Dramatische Musik kündigt immer wieder an, man sei jetzt also beim so genannten „Irma-Tracking“ dabei. Bisher habe ich immer nur Athleten getrackt. Jetzt verfolge ich also Irma´s Race. Besorgte Bürger werden vor´s Mikro gezerrt. Wo diese Interviews stattfinden und wann, das wird nicht gesagt. Zwischendurch Bilder von Hurrikan-Verwüstungen. Später stellt sich heraus, die Bilder kommen aus Haiti und sind alt. Sie sollten offenbar nur so illustrieren, wie schrecklich alles werden kann. Der Sturm fegt über Kuba. Keine Bilder davon. Keine Nachrichten darüber. Liebe Journalistinnen und Journalisten unter meinen Freunden: Christina, Hartwig, Frank und Claas: Ihr wäret entsetzt!

Als ich später wegen akutem Informationsmangel – und wegen Angst – mit meinem Vater telefoniere, sagt er, ich solle CNN anschalten. Es geht mir besser danach. CNN zeigt eine richtige Karte von Florida, macht Angaben zu Windgeschwindigkeiten und gibt Informationen darüber, was Sturzfluten sind. Für County Lakes sind nämlich „flashfloods“ angesagt. Weil ich aber nicht an der Küste bin, scheint es Clermont wohl nicht zu betreffen. Ich telefoniere stundenlang mit meinem Vater, wir machen Witze über die Moderatoren. Einer hat sich extra eine Hurrikan-Brille besorgt, die fliegt ihm immer vom Kopf. Ein anderer sieht aus, als wollte er gleich angeln gehen in seiner Regenhose. Aber man weiß, wer wo spricht, alles ist live und die Uhrzeiten werden auch gesagt. Seit Stunden prasselt der Regen gegen mein Fenster. Der Wind rüttelt. Ich weiß, dass es mich erst um Mitternacht so richtig treffen wird. Es ist ein bisschen wie Sylvester. Warten auf das Feuerwerk. Irma hat den Kurs mal wieder gewechselt, das Auge des Hurrikans wird jetzt wohl zwischen Tampa und Orlando durchgehen. Ich breite meine große Karte von Florida vor mir aus. Wo liegt Clermont? Ah, da: Clermont liegt genau zwischen Tampa und Orlando. Na, toll. Der Strom ist schon um kurz vor acht weg. Fernseher aus. Ein Notstrom-Aggregat geht an, hält aber nur eine Stunde, dann ist es finster. Von neun bis Mitternacht ist eine lange Zeit, um alleine im Dunklen auf den Peak eines Hurricans zu warten. Das ist kein Sylvester-Fondue. Ich habe mir in meinem Leben mit Familie, Beruf und Sport schon oft sowas wie Langeweile gewünscht. Aber das hier habe ich mir nicht gewünscht.

Die Telefonleitungen sind gekappt. Die Stimme meines Vaters ist weg. Internet weg. Ich versuche Robin zu erreichen. Höre kurz seine Stimme, dann ist auch er weg. Zum Glück hat mir Kathy eine Taschenlampe gegeben. Der sicherste Ort sei das Schlafzimmer, meint sie. Oben auf der Empore unter dem Dach solle ich nicht schlafen. Die Fenster würden ihrer Meinung nach aber halten, da brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Außerdem habe sie alle Bäume am Haus noch runtergeschnitten. Mit diesen Infos im Kopf liege ich auf meinem Bett. Alleine. Im Dunklen. Bekomme Bauchschmerzen. Mir wird schlecht. War das die gegorene Kiwi vorhin? Ich stelle mir vor, die Fenster bersten. Dann flüchte ich mit Bettzeug und Kissen in den Schrank. Harry Potter. Es rüttelt am Dach. Ich könnte ein Buch lesen. Habe aber nur die Kindle-App, kein richtiges Buch. Ich sollte lieber Strom sparen. Also nicht lesen. Musik hören. Kostet auch Akku. Also nichts hören. Schade, dass ich nicht meditieren kann. Aber im Kühlschrank habe ich Gin und Tonic. Besaufen wäre eine Alternative. Die Eiswürfel sind noch nicht geschmolzen! Aber irgendwie will ich dann doch lieber einen klaren Kopf behalten. Das Dach rüttelt, der Wind tost am Fenster. Ich stopfe mir Oropax in die Ohren. Und dann passiert das Unfassbare: Ich schlafe einfach ein. Ich schlafe einfach ein!!! Gegen ein Uhr werde ich zwar noch einmal kurz durch einen mächtigen Schlag geweckt. Etwas Großes, Schweres, Langes muss irgendwo in der Umgebung zu Fall gekommen sein. Als ich um halb sechs wieder aufwache, ist das Schlimmste vorbei. Ich bin ein Glückskind.

Aloha, Eure Katy