Wie ist Taipeh? Ich würde sagen: Same, same but different. Taipeh ist Großstadt. Millionenstadt, Hauptstadt, Weltstadt. Genauso wie Berlin, Paris oder Bangkok. Es gibt Szeneviertel, Finanzdistrikte, Banken, Kunst und Kultur, historische Stätten und viel Verkehr… Und doch fühlt sich Taipeh auf eine eigentümliche Weise ganz anders an als jede Großstadt, in der ich bisher war. Vielleicht liegt das auch an der Art, wie ich die Stadt entdeckt habe. Nach meinen drei Nächten im Kloster, bin ich froh, im Hotel zu wohnen. Alleine, ohne fremde Mitbewohnerin im Zimmer, weiche Matratze, nein: überhaupt eine Matratze, ein eigenes Bad, um 4:20 Uhr nicht geweckt werden zur Morgenmeditation. Unten in Taipeh ist es auch wärmer und weniger regnerisch als oben in den Bergen. Miriam interessiert sich nicht naturgemäß nicht besonders für die Angebote der Großstadt und sie bekommt vom Kloster sowieso nicht frei für eine Touristenführung. Also erkunde ich die Stadt alleine und habe sofort einen besten Freund. Die MRT. Das ist die Metro Taipehs. Das beste öffentliche Verkehrsmittel ever. Man erreicht praktisch jeden Punkt der Stadt mit der MRT, muss kaum umsteigen, selten warten, die Stationen sind durchnummeriert und überall hängen Pläne und Karten zur Orientierung. Lästiger Fahrkartenkauf entfällt, man kauft einmal eine Karte und gelangt damit so lange von A nach B, bis man sie wieder aufladen muss. Das kann man ganz einfach im Seven-Eleven-Store machen und die gibt es praktisch an jeder Straßenecke – rund um die Uhr geöffnet, versteht sich. Staatlich subventioniert, also preiswert, ist die MRT auch. Mit 200 Taiwan-Dollar, das sind etwa sechs Euro, fahre ich vier Tage lang kilometerweise durch die Gegend. Ohne mir vorher überlegen zu müssen, wie oft, wie lange oder wohin ich fahren will und ob ich dabei irgendeine Tarifzone überschreite. Die Taiwaner werden ja oft als die Deutschen Asiens bezeichnet. Weil sie so systematisch, diszipliniert und pünktlich seien. Ich würde eher sagen, wir Deutschen haben noch Luft nach oben, wenn wir die Taiwaner Europas werden wollen. Zumindest was den öffentlichen Transport angeht, sehen wir im Vergleich schlecht aus. Es ist erstaunlich, wie diszipliniert und höflich man hier miteinander umgeht. Auf den Bahnsteigen sind parallele Linien aufgeklebt, dort wird auf den Zug gewartet, und zwar hintereinander in der Reihe. Queue. Erst aussteigen lassen, dann einsteigen. Und wenn die Bahn voll ist und jemand von hinten sich nur ein wenig rührt, um auszusteigen, treten sofort alle zurück und lassen denjenigen durch – ohne jeglichen Körperkontakt. Dabei wird man auch schon mal freundlich angelächelt. Taipeh ist sehr grün. Umringt von Bergen und Wald, stehen auch in der Stadt Bäume und Büsche, es gibt gleich mehrere gepflegte Stadtparks. Die Müllabfuhr fährt jeden Abend durch meinen Stadtteil. Erst dachte ich, ein postmoderner Leierkasten fährt durch die Straßen, aber es sind die Müllautos, die sich durch Spieluhrenklänge im Computersound ankündigen. Dreck oder Papier liegt nirgends herum. Aber geleckt ist es hier nicht. Im Gegenteil. Die Gebäude sind außerhalb des Taipeh 101, der schicken Finanzdistrikte und der Shoppingmalls in der Regel flach und abgewrackt, selten älter als dreißig Jahre, wenig nachhaltige Leichtbauweise, Rost, Schimmel, Verfall. Kleine Garküchen mit fettigen Pfannen, Töpfen und Grillrosten drängeln sich an den Straßenrändern und räuchern um die Wette. Bunte Leuchtreklamen mit chinesischen Lettern blinken, rote Laternen. Dazwischen Ampeln und hunderte Motorroller. Ich glaube am Anfang waren es besonders diese extremen Gerüche und Farben, die alles andere übertüncht haben, was in dieser Stadt sonst noch so wahrzunehmen ist. Es gibt hier ein Gericht, das sich tatsächlich Stinketofu nennt. Und das riecht fürchterlich. Gleich am ersten Tag verrirre ich mich, während meiner Suche nach einem kleinen Tempel, in einer Gasse. Stehe plötzlich vor einem Restaurant, das Schlangen und Ratten in Terrarien ausstellt. Zum Essen. Daneben eine Garküche, die einen Haufen Hühnerfüße aufgetürmt hat. Es gibt auch kleine gebratene Kraken in Dreieckstüten zum Aufspießen und riesige Schüsseln mit gallertartiger, brauner Masse, von der ich nicht sagen kann was das ist, wie das gegessen wird. Und warum. Schweineherzen, Nieren und Rinderzungen liegen in Vitrinen. Dann ein Stand mit Froscheiern. Voller Ekel wende ich mich ab. Aber ein Spieß sieht sehr lecker aus, ich haben schon meinen Hunderter zum Bezahlen in der Hand, als ich sehe, was das ist: Wachteleier. Am Spieß. Überhaupt: Überall Eier, Eier, Eier. Eingelegt in Sole, schwefelstinkend. Würgereiz. Zuerst glaube ich, hier niemals etwas annähernd Akzeptables zu Essen zu finden. Ich sehe mich schon zum Seven-Eleven gehen, trocken Toastbrot kaufen. Es braucht einige Zeit, bis ich auf dem Nachtmarkt in meinem Stadtteil die Leckereien entdecke. Und davon gibt es so viele! Dumplings und Dampfnudeln! Chinesische Pizza und geschälte Fruchtteller. Süße Tapiokaspieße, kalte und warme Mandelmilch! Zuckerrohrsaft mit Limetten! Das schmeckt alles so aufregend anders und neu. Nach Reis und Soja und grünem Tee, nach Kräutern und Zucker und Bambus. Essen funktioniert nach Trial and Error. Meistens steht da keine englische Übersetzung. Amtssprache ist Mandarin. Man spricht auch Taiwanesisch. Chinesische Schriftzeichen. Überall. Ich bin Analphabetin. Darauf angewiesen, dass man mir ein paar Brocken Englisch anbietet. Ich suche Zuflucht im Touristenbus, dort erklärt mir ein englischer Audioguide die Stadtteile, dasselbe im Nationalen Palastmuseum. Puh, das ist echt anstrengend und ich bin froh, dass Miriam nach Taipeh kommt und mich abholt. Erst gibt es noch einen „Monk-Chat“ im Café. Miriam hat im Laufe der Zeit, viele Ausländer aus der Stadt zusammengeführt für gemeinsame Meditation und Gespräche. In regelmäßigen Abständen trifft sie sich montags in Taipeh im Café mit (überwiegend jungen) Leuten aus England, Deutschland, Russland und anderen Ländern. An diesem Tag sind wir zu Fünft. Es geht um Fragen zum (buddhistischen) Leben, es wird philosophiert, gezweifelt und gelacht. Wir gehen vegetarisch essen und ich bedauere, erst jetzt am Ende, die vielen guten Leute und Lokale kennenzulernen.